Foto: Anne Voigt

Tassajara: Ich raus, Wir rein. Zumindest für Augenblicke.

Während einer dreimonatigen Praxisperiode im kalifornischen Kloster Zenshinji in Tassajara sieht sich Anne Voigt mit zahlreichen Widerständen konfrontiert. Es war eine Entdeckung des Glücks.

Von Anne Voigt   —   Juli 2016

Ein rotes Stirnband bedeckte meine Ohren, ein Tuch meinen Hals. Ich trug Thermounterwäsche, darüber ein Kapuzenshirt. Die Kapuze hatte ich über meinen Kopf und das Stirnband gestülpt. Dicke Wollsocken, meist zwei Paar, wärmten meine Füße. Zusammen mit einem durchaus zuverlässig funktionierenden Schlafsack und zwei Wärmflaschen war das meine nächtliche Ausrüstung während der ersten Wochen der dreimonatigen Winter-Praxisperiode in Tassajara, einem der drei Praxis-Zentren des San Francisco Zen Centers. Tassajara wurde 1967 als erstes Zen Kloster außerhalb Japans von Shunryū Suzuki Roshi gegründet. Es liegt mitten in der kalifornischen Ventana Wildnis. Um vom nächstgelegenen Ort zum Kloster zu gelangen, bedarf es einer zweistündigen Autofahrt, die wegen der sehr kurvenreichen Schotterstraße, die erste Herausforderung ist, noch bevor die eigentliche beginnt.

Es war meine erste Praxisperiode in Tassajara. Ich bewohnte eine Hütte, die trotz nächtlicher Temperaturen unter dem Gefrierpunkt keine Möglichkeit zum Heizen bot. Es war kalt. Insbesondere beim Aufstehen, morgens 3:50 Uhr, konnte ich daran keinen Gefallen finden. Die erste Woche meditierten wir fast ununterbrochen von früh 4:20 bis abends 21 Uhr im Zendo. Nicht einmal Duschen war während dieser Zeit erlaubt. Auch danach ließ der Stundenplan kaum Raum für eigene Entscheidungen. Neben ausgiebiger Zazen- und Kinhin-Praxis wurde mehrmals am Tag gechantet. Wir arbeiteten, besuchten ab und an Dharma-Vorträge oder -Klassen und studierten jeden Morgen buddhistische Literatur. Immerhin hatten wir Freizeit, anderthalb Stunden am Nachmittag.

Der Altar im Zendo (Meditationshalle)
Der Altar im Zendo (Meditationshalle) Foto: Anne Voigt
Mönche während Kinhin (Gehmeditation)
Mönche während Kinhin (Gehmeditation) Foto: Anne Voigt

Das war unser Leben in Tassajara. Ein Tag glich dem anderen. Nur mein Geist wartete ständig mit neuen Geschichten und Bewertungen auf. Ōryōki, das zeremonielle Essen, das mehr Zeremonie als Essen ist, war manchmal wie ein wunderschöner Tanz zwischen den Praktizierenden und mir und dann auch wieder ein nerviges Ritual, das kein Ende finden wollte. Und all die Verbote! Snacks mal zwischendurch durften selbst während der Pausen nur im Sitzen eingenommen werden. Musikhören war nicht erwünscht. Längeres Reden wurde nur in den Pausen gestattet. Wer sich nicht daran hielt, durfte sprechen: mit dem Tanto, dem Praxisleiter. Der permanente Schlafmangel machte uns allen zu schaffen. Zehnminütige Pausen wurden nach kurzer Zeit immer öfter in Mini-Mittagsschläfchen verwandelt, selbstverständlich zu jeder Tageszeit. Die wenigen Pausen, die uns vergönnt waren, mussten wir gelegentlich auch zum Wäschewaschen nutzen, eine Tätigkeit, die in Tassajara noch mit den Händen erledigt wird. Die Stromversorgung ist mitten in der Wildnis keine Selbstverständlichkeit. Elektrische Geräte dürfen nur bei Sonneneinstrahlung geladen werden, was nicht weiter stört, da Computer natürlich ebenfalls nicht erlaubt sind. So glänzt auch das Internet durch permanente Abwesenheit.

»Und warum macht man so etwas?« Nach dem Ende der Praxisperiode wurde mir diese Frage sehr häufig gestellt. Wie die reinste Glückseligkeit klingen der Tagesablauf und die damit verbundenen Einschränkungen nicht. Zu viele Entbehrungen, zu wenig Selbstbestimmtheit, zu wenig Ich. Und genau das hat mir mein Ich, das zu allem Übel auch noch eine Einbildung sein soll, während dieser Zeit erwartungsgemäß oft suggeriert. Wie ein pubertierender Teenager wurde ich innerhalb all dieser Regeln und Vorschriften mit meinen Widerständen konfrontiert. »Ich mache das, wie ich es will! – Warum müssen wir so früh aufstehen? Das ergibt keinen Sinn. – Ich will die Kontrolle haben!« Mit Abstand betrachtet, wirkt es lächerlich und doch hat es sich in diesen vielen, kleinen Momenten sehr real angefühlt. Natürlich, warum sollte es anders sein als sonst?

Im Zen ist oft die Rede vom Studium des Selbst. Während der kurzen Zeit in Tassajara hatte ich ausgiebig Gelegenheit dazu. Dabei offenbarten sich Seiten in mir, die ich zuvor geschickt zu ignorieren wusste – meine manchmal unermessliche Gier zum Beispiel oder der mal laute, mal leise Schrei nach Anerkennung. Die unzähligen, sehr exakt choreografierten Formen, für die Zen bekannt ist, boten auch genügend Raum für meine Angst, Fehler zu begehen. Mir wurde bewusst, wie oft ich nur wegen einer Verbeugung an der falschen Stelle zusammenzuckte und mich über mich selbst ärgerte.

Anne während der Winterpraxisperiode 2016 in Tassajara
Anne während der Winterpraxisperiode 2016 in Tassajara Foto: Anne Voigt
Ventana
Die kalifornische Ventana Wildnis, in der das Kloster Zenshinji zu Hause ist Foto: Anne Voigt

Es dauerte eine Weile bis ich verstand, dass Ziel all der Regeln und des eng gesteckten Tagesablaufs nicht war, mich zu geißeln. Durch sie hatte ich Gelegenheit, mein Selbst zu studieren. Ich konnte meine Angst genauer untersuchen, um schließlich auch Dank der Hilfe der wunderbaren LehrerInnen eine Idee davon zu bekommen, was es bedeutet, mit Angst geschickt umzugehen. Sie zu verdrängen, kann man probieren, funktioniert nur leider nicht. Wenn wir aus Furcht handeln, fehlt es an Vertrauen in die Realität. Wir separieren uns von anderen. Denkt man darüber nach, klingt es plausibel. Danach zu handeln, erfordert viel Übung, mit der ich gerade erst begonnen habe. So versuche ich mich immer wieder an größtmöglicher Offenheit, anstatt mich ängstlichen Gedanken hinzugeben. Manchmal klappt das, oft nicht. Dann eben das nächste Mal. Grundlage für Übungen wie diese ist Aufmerksamkeit. So oft hören wir nicht zu, weder anderen noch uns selbst. Wenn wir es tun, kann es schmerzhaft sein. Und wundervoll.

Trotz der unzähligen Widerstände habe ich mich in Tassajara so lebendig gefühlt wie ewig nicht mehr. Wenn ich die Menschen und Situationen annehmen konnte, wie sie waren, wurde ich mit einer unfassbaren Leichtigkeit belohnt. Wenn aus dem »Ich« ein »Wir« wurde, waren das Momente des Glücks. Die Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit, mit der die 66 Praxisperioden-TeilnehmerInnen mit mir zusammen praktizierten, und ihr unerschütterlicher Humor, imponierten mir von Beginn an. Der Austausch mit ihnen und die Nähe, die sich in den drei Monaten zwischen uns entwickelte, waren unglaubliche Erfahrungen. Kein Ausschlafen, keine Heizung und nicht mal mein Lieblingssong können die Zufriedenheit und Verbundenheit erzeugen, die ich dort verspürte.

Diese drei Monate waren Glück. Ich war allerdings nicht immer bereit, dieses zu sehen.

Wenn mir in Tassajara die Aufgabe übertragen wurde, abends mit der Taschenlampe den schmalen Wegen zu folgen, um zu überprüfen, ob in den Hütten kein Licht mehr leuchtete, dann konnte ich es sehen:

Die Sterne kleben wie Weihnachtskugeln an den Bäumen. — Der Mond begleitet jeden Schritt, den ich gehe durch die herbstlichen Blätter, obwohl Frühling ist. — Und ich ertrinke in der Stille und bin verliebt in den Moment – der unendlich scheint. 

Der Artikel wurde erstmalig in leicht abgeänderter Form in der Zeitschrift Ursache\Wirkung (Nr. 98, 04/2016) veröffentlicht.