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Judith Holofernes: »Mein frühester Berufswunsch? Weise alte Frau!«

Judith Holofernes schreibt Songs, Gedichte und tut auch gerne – und absichtlich regelmäßig – nichts. Sie war Frontsängerin der Band ›Wir sind Helden‹ und ist seit einigen Jahren als Solokünstlerin unterwegs. ›Ich bin das Chaos‹ heißt ihr aktuelles Album, denn »das Chaos lebt, beunruhigt und entzückt«. Ein Gespräch über das Nichtstun, ihre buddhistische Praxis und Heldentaten, denen sich jeder stellen sollte.

Von Anne Voigt   —   27. Oktober 2017

Seit Jahren beschäftigt dich die Frage, welche Berufsbezeichnung zu dir passt. Hast du schon Antworten?

Oh, das würde so vieles leichter machen! Künstlerin trifft es wahrscheinlich am ehesten. Aber das sagt den Leuten ja auch nicht besonders viel über das, was ich mache. In der Facebook-Biographie von jemand anderem habe ich gerade gelesen »Genre: defying« (Engl.: sich etwas oder jemandem widersetzen), das fand ich toll. Ich glaube, mein Genre ist im weitesten Sinne Indie Rock und ich bin im weitesten Sinne Songwriterin.

Dein aktuelles Album heißt Ich bin das Chaos. Was kann das Chaos, was die Ordnung nicht schafft?

Ordnung funktioniert nicht, wenn sie das Chaos negiert. Chaos lebt und beunruhigt und entzückt. Ordnung muss das Chaos respektieren, sonst ist sie zum Scheitern verurteilt.

War das Chaos auch dafür verantwortlich, dass du mit dem Meditieren angefangen hast?

Ich glaube, mein frühester Berufswunsch war »weise alte Frau«! Ich hatte immer viel Angst als Kind, und die Monster unter meinem Bett wurden ziemlich nahtlos von existentiellen, philosophischen Ängsten abgelöst. Ich denke, diese Angst hat mich immer nach Trost und echter Verlässlichkeit suchen lassen. Und weil ich geahnt habe, dass ich in diesem Leben Schmerzen nicht vermeiden würde können, habe ich früh beschlossen, mich vorzubereiten. Schutz suchen in dem, was unabhängig von äußeren Gewalten ist.

Als ich meinen Mann Pola kennengelernt habe – damals noch nur der Schlagzeuger in meiner Band –, hat er schon meditiert, allerdings noch ohne einem bestimmten Lehrweg zu folgen. Ich habe dann in Berlin in meiner Straße ein winziges buddhistisches Zentrum entdeckt und da haben wir beide unser Zuhause gefunden.

Judith Holofernes
Judith Holofernes zusammen mit ihrem Mann, dem Musiker Pola Roy. Foto: Marco Sensche

Wie spiegelt sich deine buddhistische Praxis im Alltag wider?

Meistens weniger, als ich möchte. Ich versuche, regelmäßig zu meditieren, tue es aber viel seltener, als mir lieb ist. An einigen Sonntagen gehe ich zu Vortragsveranstaltungen in meinem Mediationszentrum. Ansonsten versuche ich, die Silas, die sogenannten Tugendregeln, zu üben und auch sonst die Buddhalehre in meinem Alltag umzusetzen. Ein Text, den ich fast täglich innerlich oder laut rezitiere, ist die »Lehrrede von der liebenden Güte«. Ein Schutztext, der mich sehr kraftvoll an das erinnert, was mir wichtig ist.

Was ist dir wichtig?

Große Frage. Aber im Grunde eine, die nur eine große Antwort verträgt: Liebe und Weisheit. Von beidem bin ich oft genug weit entfernt. Aber die Momente, die davon berührt sind, lassen alle anderen verblassen.

Ist Meditation auch ein politischer Akt für dich? Der Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch meinte kürzlich in einem Interview, er hoffe, dass du dich auch künstlerisch politisch bemerkbar machen wirst.

Meditation ist auf jeden Fall eine gute Vorbereitung für politisches Handeln – wie für jedes andere Handeln auch. Der Buddha rät, nicht aus unheilsamen Geisteszuständen heraus zu agieren. Sich immer zu fragen, ob Mitgefühl und Weisheit vorhanden sind. Nicht eins von beiden, wohlgemerkt, sondern beides. Das ist eine ganz schöne Ansage, oder? Sich diese Fragen zu stellen, bringt eine Verzögerung mit sich, die es beinahe unmöglich macht, auf den Empörungswellen der sozialen Medien mitzusurfen. Und ja, vielleicht macht mich das langsamer, manchmal auch zu langsam. Immer mal wieder bin ich dadurch irgendwo nicht dabei, wo ich es später bedauere.

Aber im Großen und Ganzen schützen mich diese Fragen davor, in einen reaktiven, panischen »Machen-Modus« zu verfallen. Wir möchten doch immer etwas machen, machen, machen – besonders wenn wir beunruhigt sind. So sind wir eben verschaltet. Aber ob das Handeln, das daraus entsteht, hilfreich ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Und wenn ich dann meine politischen Songs zur Not um fünf Jahre verzögert schreibe, finde ich das völlig in Ordnung. Man kommt mit einem Song, der wirklich was taugt, selten wirklich zu spät. Leider – die grundlegenden Probleme in der Welt haben sich in der Zwischenzeit in den seltensten Fällen aufgelöst.

Dem »Machen-Modus« entkommst du auch durch regelmäßiges und absichtliches Nichtstun. Wie sieht das bei dir aus?

Oh, darüber könnte ich stundenlang erzählen! Aber verkürzt: Man setzt sich auf seinen Hintern und macht nichts. Nicht lesen, nichts aufschreiben, nicht den Computer aufklappen. Man lässt den ersten Impuls zum Tun kommen und gehen, den Zweiten auch, den Dritten. Am Anfang kann das sehr unangenehm sein. Nach etwa einer Stunde macht sich bei mir meistens ein stilles Entzücken breit.

Für Anfänger empfehle ich ein »Schummel-Nichtstun«, bei dem man den Blick angenehm schweifen lassen kann, also zum Beispiel aus dem Zugfenster gucken oder auf dem Balkon sitzen und die Umgebung betrachten. Für Fortgeschrittene: Aufs Sofa setzen und mit Blick auf die weiße Wand verweilen.

Was ist für dich der Unterschied zwischen Nichtstun und Meditieren?

Ich habe das Gefühl, dass wir Denkmenschen zusätzlich zur Meditation »Denke-Inseln« gut gebrauchen können, bei denen das Denken explizit erlaubt ist. Den Gedanken Raum zu geben, sie sich aussprechen zu lassen. Auch wenn ich nicht mit dem Vorsatz in diese Nichtstun-Stunden gehe, über irgendetwas nachzudenken. Ich gleite ab und zu in meditative Zustände, hänge dann aber auch wieder Gedanken nach.

Im Prinzip geht es darum, am Tag das zu erlauben, was sich sonst beim Schlafengehen äußert und uns vom Schlafen abhält. Natürlich überschneidet sich das mit »echter Meditation«. Aber gerade das Unfokussierte daran hat für mich einen besonderen Segen und befeuert auch die kreative Arbeit.

Inwiefern?

Der Regisseur David Lynch hat mal geschrieben, im seichten Wasser fange man kleine Fische, im tiefen Wasser große. Ein paar Stunden lang nichts zu tun, bedeutet, ins ganz, ganz tiefe Wasser rauszuschwimmen.

Im Buddhismus steht nicht der Glaube an einen allmächtigen Gott im Mittelpunkt. Gibt es trotzdem etwas, an das du glaubst?

Daran, dass wir Menschen uns nur geringfügig voneinander unterscheiden. Wir alle wollen glücklich sein und Leid vermeiden, und versuchen auf allen möglichen Wegen, unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Wir sehnen uns nach Verbundenheit, Aufgehoben-Sein, In-Ordnung- Sein. Manche sind davon weiter entfernt, viele wählen schwierige bis unmögliche Mittel, einige haben von Haus aus kein gutes Werkzeug in der Hand. Viele verrennen sich in Wegen, die ihnen selbst und anderen Schaden bringen. Aber wir alle wollen glücklich sein und sind in dieser Gemeinsamkeit unendlich verwundbar und liebenswert.

Welche Heldentat sollten wir dann also alle mal probieren?

Ha! Das mag vielleicht unerfreulich klingen, aber: sich auf das Sterben vorbereiten. Der ultimativen Grundangst vor der eigenen Vergänglichkeit ins Auge schauen. Sanft, vorsichtig und freundlich – aber beharrlich. Es gibt nichts, was dem Leben mehr Perspektive und Dringlichkeit verleiht.

Dein Lebensziel ist es auch, einen leichten Tod zu erleben. Was genau meinst du damit?

Na ja, ich wäre am liebsten mit leben fertig, wenn es zu Ende geht. Furchtlos. Ich möchte »heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen«, wie Hesse schreibt. Seit ich Kinder habe, bin ich von dieser Art von Gleichmut natürlich weit entfernt. Weiter, als ich es vorher jemals war.

Aber das Loslassen, das kann man üben. Und man kann sich auch mit dem Tod befreunden, vorsichtig und sanft. In der Meditation kann man Zustände erleben, die zutiefst tröstlich und beruhigend sind. Wir haben ja im Grunde Angst vor der Auflösung und vor dem Getrennt-Sein. In meditativen Zuständen erfährt man Auflösung und Verbundenheit zugleich. Eine Auflösung, die sich nicht nach Vernichtung anfühlt, sondern wie ein »Aufgehen in …«. Und dann bekommt man eine Ahnung, dass man im Tod vielleicht gar nicht von der Welt getrennt, sondern viel mehr mit ihr vereint wird. Und das ist doch wahnsinnig schön. 

Das Interview wurde erstmalig in leicht abgeänderter Form in der Zeitschrift moment by moment (Ausgabe 04/2017) veröffentlicht.